Azupizu – 6 Stunden tief im Regenwald
Ich kenne ein Yanesha-Dorf. Es liegt etwa einen sechs stündigen Fußmarsch entfernt, tief im Regenwald.
Um 5:00 Uhr morgens klingelte der Wecker, Regen prasselte leise auf das Dach unseres Projekthauses. Draußen fing es schon langsam an, hell zu werden, als zwei peruanische Teammitglieder, Henry und Lucero, meine Mitfreiwillige Fenja und ich uns für unseren Aufbruch nach Azupizu fertigmachten. Ein langer Tag sollte uns erwarten, ein langer Fußmarsch durch den Regenwald. Da unsere Rucksäcke klein und leicht sein mussten, konnten wir nur das Nötigste mitnehmen.
Der Weg ins Dorf- der erste Abschnitt
Den Weg starteten wir mit einem Pickup. Wir fuhren über die holprigen, von Schlaglöchern übersäten Straßen Zentralperus. Wir fuhren an den entwaldeten Flächen Cacazus vorbei, dem einstigen kulturellen Hauptzentrum der Yanesha-Nation, das aber in den 70er-Jahren, der Straße, Holzfällern und Rinderweiden Platz machen musste. Der Regen begleitete uns. Je weiter wir fuhren desto dichter wurde der Wald, die Grasflächen wurden seltener und es fühlte sich an, als würde man in der Zeit zurückfahren. Doch im Gegenteil, die Zeit fuhr mit uns. Denn während ich einerseits das Gefühl hatte, der Zivilisation zu entfliehen, so fuhren uns andererseits immer wieder mit Holz beladene Laster entgegen. Mir wurde klar, dass die Straße nicht für die Menschen gebaut wurde, sondern für den Transport von Ressourcen.
Nach zwei Stunden hielten wir schließlich am Rande einer Brücke. Hier begann eine Abzweigung des Wegs, der entlang des Flusses und durch den Dschungel der Hochlandregenwaldregion Amazoniens zu der Yanesha-Gemeinschaft San Geronimo führte.
Die Yanesha-Gemeinschaft
Von früheren Ausflügen nach San Geronimo wusste ich, dass in diesen Wäldern Vogelspinnen, Giftschlangen und Jaguare leben. Für die Yanesha-Gemeinschaft ist es allerdings mehr als ein Dschungel.
Seit 3500 Jahren stellt dieser Urwald das Herzstück der Yanesha-Kosmologie dar. An der Seite dieses Waldes hat sich ihre Kultur entwickelt. Wenn man mit den Yanesha durch den Wald läuft, werden unscheinbare Blätter zu Heilpflanzen, Wurzeln zu Giften, abgenagte Bromelien zu einer Fährte und schöne Lagunen zur Heimat von Mythen und Glauben. Es ist eine einzigartige Welt, in der beide Akteure in einer Interdependenz zueinanderzustehen scheinen. Ohne die Yanesha gäbe es keinen Wald mehr und ohne den Wald keine Yanesha. Und so sind sie beide gleichermaßen vor dem Aussterben bedroht.
Der Weg ins Dorf – das letzte Drittel
Je weiter wir gingen desto höher waren die Bäume entlang unseres Weges gewachsen. Gleichzeitig wurde der Wald aber immer lichter. Wir gingen über Bergrücken, durchquerten Flüsse und Täler, während wir immer wieder eine einmalige Aussicht auf die Weite der Baumgipfel in den Tälern und den Hängen bekamen. Doch die Luftfeuchtigkeit, die Schwüle und der vom Regen aufgeweichte Boden machten uns das Laufen unglaublich anstrengend und wir kamen nur langsam voran.
Nach sechs Stunden, das Wasser reichte uns in unseren Gummistiefeln mittlerweile bis zu unseren Waden, kamen wir schließlich auf einer kleinen Lichtung bei einem Haus an, von dem es noch weitere 40 Minuten bis nach Azupizu dauern sollte. Eine Yanesha rief uns zu, dass wir uns ausruhen sollten und lud uns auf einen „Masato“ ein, dem traditionellen Getränk der Yanesha, welches aus Maniok hergestellt wird. Von ihrem Garten aus hatten wir einen Ausblick auf einen wunderschönen Wasserfall auf der gegenüberliegenden Bergseite, der wohl 80 Meter hoch sein musste.
Die Ankunft in Azupizu
Als wir in Azupizu ankamen, war es schon später Nachmittag und da in Peru die Sonne um 18:00 Uhr untergeht, hatte auch schon die Abenddämmerung begonnen. Trotzdem blieb uns noch genug Zeit, um die Dorfgemeinschaft kennenzulernen, von der wir sehr herzlich empfangen wurden und die trotz der Isolation sehr gut organisiert ist. Solarplatten liefern Strom, Maulesel weiden auf dem kleinen Fußballplatz und es gibt Duschen, die die Schwerkraft nutzen, um das Wasser der höher gelegenen Bäche zu verwenden.
Als die Sonne unterging, gingen die Sterne auf, auf einzelne folgten viele und schon bald war der ganze Himmel von ihnen bedeckt. In den Büschen wurde das Spektakel von Glühwürmchen und Glühfaltern, deren Lichter wie Augen zwischen den Ästen aufblinkten, erwidert. Zu den Geräuschen der Zirpen und dem Quaken der Frösche legten wir uns schließlich schlafen. Der Boden des Gemeinschaftshauses diente uns als Bett, auf dem wir nur noch unsere Schlafsäcke ausbreiteten.
Doch ich konnte nicht richtig einschlafen. Die Geschichte der Yanesha, von der sie mir an vielen Abenden erzählten, hielten mich wach. Um verstehen zu können, was wir hier in dem Projekt tun, erzähle ich sie euch.
Vertreibung – Die Geschichte eines Volkes
Als vor 50 Jahren der Vater des heutigen Amchatareth, also des Dorfchefs in die Gegend von Azupizu kam, lebte dort schon ein Yanesha. Er war wohl über einhundert Jahre alt und sprach nur Yeñoño. Damit war er das vielleicht letzte unberührte Vermächtnis einer Ethnie, die sich einst über die Grenzen des Regenwaldes hinaus, über die Gebirgsketten der Anden, bis nach Lima erstreckte. Die mündlich überlieferte Chronik der Yanesha enthält Geschichten, die von den Tempelanlagen Pachacamac und Pucllana in Lima, über die Andenstadt Tarma, bis hin nach Villa Rica und dem Ocunal führen, dem Zentrum unserer Einsatzstelle und dem einstigen Zentrum der Yanesha-Kultur.
All diesen Geschichten ist ein Begriff gemein, der schattengleich mit ihnen verbunden ist: Vertreibung. Von der Ankunft der Spanier:innen in Peru bis zur Gegenwart zieht sich ein blutroter Faden durch das kollektive Gedächtnis der Yanesha. Es ist ein Faden von gescheitertem Widerstand, Flucht, Mord und Vergewaltigung, an dem nicht zuletzt auch deutsche Siedler:innen mitgewirkt haben. Dazu gehört beispielsweise in Villa Rica die Familie Schüler und Leopoldo Krause, nach dem immer noch die Hauptstraße und die weiterführende Schule benannt sind.
In einem Yanesha Dorf, unweit von Villa Rica gelegen, wird berichtet, wie um die Mitte des 20. Jahrhunderts ein jugoslawischer Großgrundbesitzer zu ihnen kam, der sich als Herr dieses Gebietes auswies und den letzten Tempel des Corneshas, des obersten Weisen und Anführers der Yanesha, in Schutt und Asche legte. Um sich Gehorsam durch Angst zu verschaffen, befahl er seinen Männern, die Schwester einer heute noch lebenden Yanesha, zu Tode zu vergewaltigen.
Bis in die entlegensten Winkel ihres Gebietes flohen die Yanesha, doch auf ihren Fersen waren jetzt Straßenbau- und Forstunternehmen, gestützt und behütet durch die Korruption, die das peruanische Staatswesen durchzog. Fakt ist, bis heute hat die Invasion der Yanesha-Gebiete von außenstehenden Gruppen nicht aufgehört. Genau hier kommt unsere Arbeit ins Spiel.
Kolonialisierung im 21. Jahrhundert
Um heutzutage ein Gebiet in Peru zu “kolonialisieren”, braucht es in erster Instanz keine Waffen mehr. Ein Haufen Geld und ein Grundbucheintrag bei Sunarp (Superintendencia Nacional de los Registros Púplicos), das, wie fast alle öffentlichen Ämter in Peru, außerordentlich korrupt ist, genügt. Und so ist es auch heute, im 21. Jahrhundert noch möglich, dass von einem Tag auf den anderen Investoren, die dieses Land noch nie betreten haben, Anspruch auf das Gebiet der indigenen Bevölkerung erheben. Mit einem Stück Papier werden so die Existenzgrundlagen der Yanesha zerstört, Familien und Kinder allumfassend entwurzelt und ihrer Identität beraubt. Sich dem zu widersetzen ist dabei auch keine zielführende Option. Die Eigner gehen mit Gewalt vor, sollte das notwendig werden. Die Dorfchefs werden verhaftet oder umgebracht.
Der Ist-Zustand
Der Weg von Villa Rica nach Azupizu zeigt die Realität dieser Geschichte. Wo sich heute am Straßenrand kilometerweit die Ananas- und Orangenplantagen, ausdehnen, lebte vor kurzem noch die indigene Bevölkerung im intakten Regenwald. Die Städte, die heute um die Plantagen herum angelegt sind, sind jünger als meine Eltern. Wenn die Investoren heute auftauchen, steht also nicht weniger als die Zukunft auf dem Spiel. Die Zukunft der Yanesha, die so dazu verdammt werden, ohne Lebensgrundlage und ohne Identität aufzuwachsen. Deswegen ist der Moment des Handelns jetzt gekommen, es liegt in den Händen unserer Generation, daran zu arbeiten, eine Zukunft zu schaffen, in der die Yanesha und der Primärregenwald noch existieren. Es geht darum, die Fehler und die Zerstörungen unserer Vorfahren nicht zu wiederholen, ihnen nicht mit Hass und Gleichgültigkeit zu begegnen, sondern mit dem, was sie, was wir alle verdient haben, Respekt und Menschlichkeit. Und es ist möglich zu helfen. Es ist möglich und weniger kompliziert, als es sich manch einer vorstellen mag.
Hoffnung
Denn es gibt Hoffnung. Durch die Arbeit von Atiycuy und der Zusammenarbeit mit Anwälten und dem Kulturministerium, ist es uns gelungen fünf von sieben Yanesha-Gemeinschaften, mit denen wir zusammenarbeiten, einen Grundbucheintrag als Eigentümer ihrer Gebiete zu verschaffen. Dabei geht es pro Dorfgemeinschaft um ein Gebiet von bis zu 5000 Hektar, 50 Millionen Quadratmeter Regenwald.
Die anderen beiden Dorfgemeinschaften sind rechtlich bereits als indigen anerkannt, wodurch ihnen laut Verfassung viele Privilegien zustehen. Somit ist es durch die Initiative von Yaneshas, Peruanern und Deutschen gelungen, eine Grundlage dafür zu schaffen, dass die Yanesha und ihre Wälder im 21. Jahrhundert, nach Jahrhunderten der Vertreibung und Verfolgung, endlich wieder ein Leben in Selbstbestimmung und Selbstverwaltung führen können.
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