Erkenntnisse & Wachstum

2. August 2024   |   Hannah Schnell

Hola ich bin Hannah und melde mich mit meinem letzten Blogartikel, viel Spaß beim Lesen 🙂

Inzwischen fehlt nicht mehr viel, bis wir alle am Flughafen Juan Santamaría eintrudeln, Richtung Deutschland fliegen und ein sehr prägendes Jahr hinter uns lassen werden. So prägend, dass mir beim Reflektieren der letzten Monate noch einmal vieles aufgefallen ist. Zum einen hinsichtlich meiner eigenen Weiterentwicklung, zum anderen bezüglich Gegebenheiten in Costa Rica, die mir früher so selbstverständlich vorkamen. Erkenntnisse eben.

Persönliches Wachstum

Bei den Vorbereitungsseminaren wurde es uns schon prophezeit: In Costa Rica wird man (gezwungenermaßen) gelassener. Denn hier ist es deutlich schwieriger zu planen – die Busse kommen oft nicht wie gedacht (oder manchmal auch gar nicht), auf der Arbeit werden größere Aktivitäten teils erst am selben Tag mitgeteilt und wenn es heißt, „wir fahren um 6 Uhr los“, dann bedeutet das, der Motor wird mindestens 40 Minuten später gestartet. Mit der Zeit bleibt einem also nichts anderes übrig, als sich an die „hora tica“ ein wenig anzupassen und es gelassen zu nehmen.

Und obwohl ich selbst kein Paradebeispiel für Gelassenheit bin, merke auch ich, dass das Jahr in Costa Rica und der „pura vida“-Lifestyle meine damals ständige Gestresstheit gelockert haben. Es fällt mir inzwischen viel leichter, mit unvorhersehbaren Situationen lösungsorientiert umzugehen. Wenn die Kreditkarte vom Automaten eine halbe Stunde vor Ankunft des Busses nach Nicaragua eingezogen wird – dann Karte deaktivieren, die Bank kontaktieren und wieder ruhig werden, denn es ist zwar eine verdammt unpraktische Situation, aber das Ding ist auch nur ein Stück Plastik. Vor einem Jahr hätte so etwas wahrscheinlich meine ganze Reise innerlich ruiniert.

Auch das costa-ricanische Bussystem verwirrt mich selbst nach 10 Monaten noch: Da fährt man normalerweise mit seinem Standardbus immer durch den Flughafen und denkt sich einmal „Ha, ich hab’s verstanden, steig ich da mal für den Anschlussbus aus und spare mir zwei Stunden Fahrtweg“ – Pustekuchen, da bist du dann stattdessen drei Stunden länger unterwegs, weil genau an dem Tag anscheinend kein Bus Richtung Zuhause fährt. Aber auch hier merke ich, dass ich inzwischen, anstatt in Panik zu verfallen, bei den Menschen um mich herum einfach nach Rat frage. Glücklicherweise kann man sich bei solchen Dingen auf die Ticos und ihre Hilfsbereitschaft zu 100 % verlassen, und auch wenn man dann fünf verschiedene Tipps angeboten bekommt, bin ich letztendlich doch auf die eine oder andere Weise immer Zuhause angekommen.

Trotzdem erfordert das Herumreisen Planung, und das ist nun etwas, worin wir, denke ich, alle relativ routiniert geworden sind. Das, und natürlich der Fakt, in eine fremde Kultur einzutauchen, sich zurechtzufinden, sich eine neue Routine aufzubauen, sich auch auf der Arbeit zu organisieren – ein Haufen mehr Selbstständigkeit kommt durch dieses Jahr auf jeden Fall dazu, und dafür bin ich sehr dankbar.

Die Ticos & das Zwischenmenschliche

Zusammen mit meinen noch ziemlich jungen Gasteltern, meinen Gastgroßeltern und drei Hunden leben wir im kleinen Dorf Rosario, das zu Naranjo (Provinz Alajuela) gehört. Diese Menschen (& Tiere) haben mich von Beginn an in ihre Familie miteinbezogen und sich für mich interessiert. Wie die meisten Costa-Ricaner sind sie unfassbar gastfreundlich. Auch die Hilfsbereitschaft ist etwas, was ich an den „Ticos“ (lokales Wort für „Costa-Ricaner“) sehr schätze und dessen Fehlen mir in Deutschland nach dem Jahr wahrscheinlich noch bewusster werden wird. Einmal habe ich zum Beispiel erlebt, dass am Strand ein Truck im Sand stecken geblieben war und daraufhin mindestens sechs verschiedene Personen gemeinsam gefachsimpelt, gedrückt und gezogen haben, um das Fahrzeug wieder zum Rollen zu bringen – und dies letztendlich auch geschafft haben.

Die Menschen zeichnen sich hier nicht nur durch Hilfsbereitschaft aus, sondern auch durch ihr Interesse an anderen. Das bedeutet zwar zum einen, dass – v.a. im Dorf – gerne getratscht wird, jedoch auch, dass man sehr schnell mit völlig fremden Menschen ins Gespräch kommt und/oder plötzlich mehrere, ausstehende Einladungen zum Kaffee hat. Das ist oft sehr schön, jedoch führt es auch dazu, dass ich mich ständig gesehen fühle und manchmal die Anonymität Münchens (meiner Heimatstadt) vermisse.

Doch mit der Anonymität einer Großstadt wäre es undenkbar, dass der Bus automatisch bei meinem Anblick hält oder ich die Nummer des lokalen Busfahrers bekomme, um ihm Bescheid zu geben „falls ich es mal nicht rechtzeitig schaffe“. Das würde ich in Deutschland niemals finden, was dem viel durchgetakteteren und kontrollierterem Transportsystem geschuldet ist. Hier hat man im Gegensatz dazu einen etwas verwirrenden Busfahrplan nur durch Facebook oder Kontakte. Und auch wenn ich mir schon des Öfteren die deutsche Variante gewünscht habe – alles hat seine Vor- und Nachteile und mittlerweile komme ich sehr gut mit dem lokalen Bus zurecht.

Fairerweise muss man aber auch sagen, dass ich zudem noch aus der Großstadt in ein Dorf gezogen bin und sich diese Erfahrung auch nur auf meinen jetzigen Wohnort bezieht, was natürlich einen Riesenunterschied macht.

Die Mehrheit der Costa-Ricaner ist nicht nur sehr warmherzig, gelassen und hilfsbereit, sie sind auch sehr gläubig. Ich selbst bin zwar getauft und habe meine Konfirmation gemacht, jedoch habe ich sonst mit Kirche und Glauben nicht besonders viel zu tun. Deshalb ist es mir umso mehr aufgefallen, wie stark das Christentum die Kultur und das tägliche Leben hier prägt. In der Grundschule und im Kindergarten wird morgens und vor dem Essen gebetet, und auch bei unserer Seniorengruppe ist mindestens ein Gebet zu Beginn der Aktivität ein Muss.

Was ich gelernt habe, ist, wie viel der Glaube Menschen geben kann, vor allem bezüglich Hoffnung und Trost. Ganz oft habe ich festgestellt, dass durch den Glauben daran, dass Gott letztendlich nur Gutes für einen möchte und es dadurch immer Hoffnung gibt, die Menschen optimistischer auf das Leben schauen. Und auch bei Schicksalsschlägen wie Krankheit und Tod ist mir aufgefallen, wie viel Trost es einem spenden kann, die innere Gewissheit zu haben, dass eine geliebte Person oder man selbst von einer höheren Kraft begleitet und beschützt wird.

Wertschätzung von Dingen in Deutschland

Die costa-ricanische Küche ist vor allem durch eines geprägt: Reis und Bohnen. Auch wenn es diese Gerichte teils dreimal am Tag gibt, schmecken sie frisch gekocht wirklich sehr lecker. Auch Tortillas (Maisfladen), Patacones (frittierte grüne Kochbanane), Picadillos (gewürfeltes Gemüse/Fleisch) und Ceviche (eine durch Zitronensaft gegarte Fischsuppe) sind Gerichte, die ich sehr mag und über die ich mich freue, wenn es sie gibt. Trotz allem vermisse ich bestimmte Lebensmittel und die Varianz, die in Deutschland geboten wird.

Roggen-, Sonnenblumen- und Vollkornbrot – all diese Brotsorten sind hier nur schwer (und teuer) zu finden, sodass sehr luftiges, eher geschmackloses Weißbrot oder Toast die „Brotnorm“ bilden. Daher habe ich dieses Jahr mehrmals selbst Brot gebacken, weil mir das so gefehlt hat – und ich freue mich schon sehr darauf, wieder in eine warme Brezel beißen zu können!

Außerdem habe ich in Deutschland recht viel Tofu konsumiert. Hier ist dieser jedoch im normalen MaxiPalí (dem „Aldi“ Costa Ricas) nicht zu finden. Gibt es ihn doch irgendwo, ist der Preis (viel zu) hoch. Ähnliches gilt für verschiedene „gelbe“ Käsesorten wie Cheddar, Gouda oder Emmentaler. Hier ist das Pendant weißer Quietschekäse, ähnlich wie Halloumi. Ebenso vermisse ich Nüsse, Quark und ähnliche Produkte sowie vegetarische/vegane Ersatzprodukte.

Gleichzeitig weiß ich jetzt schon, dass ich Yuca, Kochbananen und unsere frischen Avocados aus dem Garten in Deutschland vermissen werde – denn diese gibt es dort nur schwer oder nur mit einer deutlich schlechteren Umweltbilanz zu finden.

Aber noch viel grundlegender als die Lebensmittelvielfalt schätze ich die Sicherheit meines Heimatlandes. Ein hier in Costa Rica wesentlich präsenteres Thema ist das Gefühl der Unsicherheit aufgrund der deutlich höheren Kriminalität. Die Mordrate in Costa Rica steigt massiv und lag 2023 bei 17,2 pro 100.000 Menschen1 (im Vergleich: in Deutschland waren es 0,82). Ich merke diesen Unterschied daran, dass ich immer wieder von Erschießungen, Messerattacken oder Raubüberfällen höre. Während ich in Deutschland nachts mit dem Fahrrad nach Hause fuhr oder alleine in der Altstadt herumgelaufen bin, traue ich mich hier selbst bei Tag nicht, bestimmte kurze Strecken in San José zu Fuß zurückzulegen. Außerdem ist mir aufgefallen, dass viele Costa-Ricaner ängstlich-vorsichtiger unterwegs sind, manchmal in dem Ausmaß, dass einem abgeraten wird, bei Anbruch der Dunkelheit spazieren zu gehen oder allgemein alleine unterwegs zu sein. Auf mich hat das abgefärbt, sodass ich teilweise mein Handy extra im Ärmel verstecke, beim Mitführen größerer Summen das Geld in meinen Schuh gelegt habe und allgemein viel wachsamer bin.

Vor allem das Thema Drogenhandel ist ein häufiger Grund für Attentate, was allgemein bekannt ist. Bei einer Aktivität in unserer Seniorengruppe, in der wir fragten, welchen Rat sie uns fürs Leben geben würden, stand in fast jeder Antwort, dass wir uns aus den Drogen heraushalten sollen.

Warum viele jedoch ins Drogengeschäft einsteigen, liegt oft in der Hoffnung auf (viel) Geld, denn Armut ist ein immer wiederkehrendes Thema. Durch mangelnde oder schlechte Bildung arbeiten viele Costa-Ricaner im informellen, oft schlecht bezahlten Sektor (Arbeit ohne Vertrag oder staatliche Regulierung). Gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten ziemlich hoch, wodurch viele in sehr begrenzten Verhältnissen leben.

Einmal hat mir ein Kind gesagt, „dass es so gerne viele Länder der Welt sehen und reisen möchte“, aber bisher noch kein einziges Mal das Heimatland verlassen konnte – weil das Geld fehlt. Eine andere Schülerin erzählte mir, dass sie Zuhause kein WLAN haben. An den Straßenrändern der Autobahnen sieht man immer wieder Siedlungen von zusammengeschusterten Blechhäusern, die sich aneinanderdrängen.

Das ist zum Beispiel etwas, was ich bisher nicht so deutlich gesehen oder wahrgenommen habe, und es macht mir immer wieder klar, wie privilegiert ich bin, finanziell abgesichert zu sein und mir keine Sorgen um grundlegende Bedürfnisse machen zu müssen.

Der Drang nach Wissen

Nach 12 Jahren Schule war ich mehr als froh, erstmal für keine weitere Prüfung lernen zu müssen und von dem ganzen Stress, der mit dem Abitur und der Schule zusammenhing, wegzukommen. Mit der Zeit ist mir jedoch aufgefallen, dass mir das Lernen fehlt. Neues zu erfahren, sich mit einem Thema intensiv auseinanderzusetzen – das hätte ich tatsächlich vorher nicht gedacht, jedoch bin ich jetzt umso motivierter, im Oktober mit dem Studium anzufangen.

Zudem ist mir aufgefallen, dass es kein schönes Gefühl ist, vom Weltgeschehen quasi abgeschirmt zu sein. So habe ich mich vor allem zu Beginn des Jahres oft gefühlt, auch weil es in meiner Gastfamilie keine Gewohnheit ist, Nachrichten zu schauen oder Zeitung zu lesen. Die automatischen Berührungspunkte mit Neuigkeiten waren somit auf einmal weg, und mir ist aufgefallen, wie präsent und selbstverständlich mein Zugang zu Informationen früher war.

Auffallen

In Deutschland, mit blonden Haaren, weißer Haut und grün-blauen Augen geboren, habe ich das Privileg, nie allein durch mein Aussehen aufzufallen. Das hat sich in Costa Rica geändert. Obwohl das Land touristisch von Europäern wie auch US-Amerikanern sehr beliebt ist, konzentriert sich dies vor allem auf San José, die Küstengebiete und Nationalparks. An anderen Orten kommt es daher nicht selten vor, dass einem „hola machita“ („Hallo Blonde“) zugerufen oder sich nochmal umgedreht wird. Oft wird man auch direkt auf Englisch angesprochen, da die meisten Costa-Ricaner annehmen, man sei „Gringo“ (ein etwas abschätzendes Wort für US-Amerikaner) und könne kein Spanisch.

Egal wie gut mein Spanisch sein mag, ich werde immer als Ausländerin gesehen werden – denn das bin ich ja auch einfach. Das klingt jetzt sehr banal, aber ich kam mit der Illusion, mit der Zeit fließend Spanisch sprechen zu können und daher nicht mehr aufzufallen. Inzwischen habe ich das akzeptiert und verstanden, dass das eben nicht so funktioniert. Es fällt mir jetzt deutlich leichter, die Blicke zu ignorieren.

Ein kleiner Disclaimer: Ich würde niemals sagen, dass ich hier durch mein Aussehen diskriminiert worden bin – die Blicke und Reaktionen basieren hauptsächlich auf Neugier. Was jedoch alle, besonders Frauen, hier erfahren, ist der weit und nochmal viel stärker verbreitete „Machismo“. Der Begriff beschreibt das Gefühl männlicher Überlegenheit. Ich nehme das täglich durch Hinterherpfeifen, Anstarren oder teils wirklich unangenehme Anmachen auf der Straße wahr. Auch wurde ich schon mehrmals nach einer kurzen Unterhaltung von deutlich älteren Männern zum Kaffeetrinken eingeladen, was ich dann aber gekonnt ignoriert habe – und die Typen daraufhin auch.

Patriotismus

In Costa Rica ist der Nationalstolz auf das Land viel verbreiteter, als ich es aus Deutschland gewohnt bin. Das hängt natürlich mit der rechtsextremen Vergangenheit Deutschlands zusammen, wodurch zu viel Patriotismus schnell negativ gesehen wird. Deshalb war es für mich umso ungewohnter, in den „Actos Cívicos“ (Schulversammlungen) der Schule mehrere verschiedene Hymnen auf Costa Rica, die Flagge, die Stadt Naranjo und die Schule selbst zu singen. Auch gibt es jedes Mal eine kleine Prozession mit der riesigen Flagge, die oft ein wenig wackelnd, aber stolz von den Schülern hineingetragen wird.

Hier habe ich erlebt, dass Stolz auf das eigene Land etwas Schönes sein kann, etwas, das ein Gemeinschaftsgefühl schafft. Trotzdem – wenn ich mir vorstelle, dass das bei uns in Schulen genauso ablaufen würde, finde ich die Vorstellung eher befremdlich – eben aufgrund der Vergangenheit Deutschlands.

Alles in allem ist mir in diesem Jahr noch klarer geworden, wie unterschiedlich Länder, Kulturen und vor allem einzelne Leben sein können. Ich bin sehr, sehr dankbar für all die Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich aus Costa Rica mitnehmen werde und die mich persönlich haben wachsen lassen.

*1Quelle: https://amerika21.de/2024/01/267685/costa-rica-gewaltwelle, aufgerufen am 22.07.2024

*2Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1100174/umfrage/faelle-von-mord-pro-100000-einwohner-in-deutschland/, aufgerufen am 22.07.2024

 

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