Pura Wahnsinn – Mein Alltag zwischen Karaoke, Therapien und viel Improvisation
Mittlerweile arbeite ich seit neun Monaten im Rehabilitationszentrum Maná in San José, genau so lang dauert auch das Programm, das die Männer dort absolvieren um zu lernen, mit ihrer Suchterkrankung umzugehen. Ich möchte mit euch einige meiner Erkenntnisse der letzten Monate teilen.
1. Effizienz und Pünktlichkeit werden nicht so großgeschrieben wie in Deutschland
Was mich in den ersten Wochen hier vielleicht noch gestresst hat, kann ich mittlerweile sehr wertschätzen: Viele Dinge laufen hier deutlich langsamer ab als in Deutschland und Aufgaben, die man innerhalb weniger Stunden erledigen könnte, dauern hier deutlich länger, teilweise auch mehrere Tage. Wenn meine Chefin um 10 Uhr einen Termin hat, beginnt er meistens nicht vor 11 Uhr und wird dann für mindestens zwei Telefonate unterbrochen, dauert deswegen länger als gedacht und der komplette Tagesplan verschiebt sich nach hinten. Der Vorteil: Wenn man sich einmal daran gewöhnt und akzeptiert hat, dass die Uhren langsamer ticken, dann hat man deutlich weniger Stress und sogar Freude am Arbeitsalltag, weil man nicht auf den Feierabend, das Wochenende oder den Urlaub hinarbeitet.
2. Rückfälle sind sehr schmerzhaft, gehören aber auf dem Weg zur Abstinenz (fast) immer mit dazu
Für mich ist es eine sehr schmerzhafte Erkenntnis in meiner Zeit hier, dass Rückfälle leider eher die Regel und weniger eine Ausnahme sind. Ich habe Männer das Programm beenden sehen und wenige Wochen später standen sie wieder bei uns vor der Tür oder wir haben von Angehörigen erfahren, dass sie wieder rückfällig geworden sind. Das hört sich erst einmal sehr hoffnungslos an, aber es gibt auch viele positive Beispiele von Männern, die seit mehreren Jahren abstinent sind, arbeiten und ein fast normales Leben führen. Einige von ihnen hatten auf dem Weg dorthin auch mehrere Rückfälle, der Weg der Rehabilitation ist in den wenigsten Fällen linear. Neben den großen Erfolgsgeschichten motivieren mich aber vor allem die kleinen schönen Momente, die ich in Maná erleben darf.
3. Karaoke hat mehr therapeutischen Wert, als es auf den ersten Blick scheint
Alle zwei Wochen wird am Freitagabend das Karaoke-Equipment ausgepackt und die nächsten zwei bis drei Stunden werden die bekanntesten Rancheros Lateinamerikas aus vollem Hals geschmettert. Was im ersten Moment wie eine lustige Freizeitaktivität erscheint, hat tatsächlich einen therapeutischen Hintergrund. Für viele der Männer im Centro ist diese Art von Musik eng verknüpft mit Barbesuchen und dem Konsum von Alkohol und Drogen. Das Ziel unserer Karaokeabende ist es, diese kognitive Verknüpfung aufzubrechen, sodass sie beim nächsten Mal, wenn sie zufällig „Nunca es suficiente“ von den Angeles Azules hören, nicht das Bedürfnis haben, in die nächste Bar zu gehen, sondern sich an den witzigen Abend erinnern, an dem sie in einem gesunden Ambiente und nüchtern eben dieses Lied mit der Maná-Familie zusammen gesungen haben.
4. Liebe, Humor und Offenheit zählen mehr als Studium oder Fachwissen
Auch wenn alle Therapeuten im Projekt Fachwissen aufweisen und sich immer weiterbilden, sind die wichtigsten Eigenschaften Offenheit, Humor, Sensibilität und ein liebevoller Umgang. Viele der Männer sind seit Jahren nicht mehr Teil der Gesellschaft, haben aufgrund der Krankheit die Unterstützung ihrer Familien verloren und haben sich an das harte Leben auf der Straße oder im Gefängnis angepasst. Neben den Therapien ist der wichtigste Teil des Programmes, ihnen einen Teil ihrer Menschenwürde zurückzugeben und sie beim Weg zurück in die Gesellschaft an die Hand zu nehmen und sie zu unterstützen. Dafür haben wir ein tolles Team bestehend aus Psychologen, einem Sozialarbeiter, einem Ergotherapeuten und zwei Suchtberatern, die alle mehr als 100 Prozent für die Männer geben.
Natürlich nehme ich aus den letzten Monaten viel mehr mit als diese vier Punkte, denn mein Freiwilligendienst in Maná ist für mich eine der spannendsten Erfahrungen und ich werde diese Zeit und die Menschen, die ich dort kennenlernen durfte hoffentlich nie vergessen.
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